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Friedrich Nietzsche
(1844 – 1900)

Text von Dr. phil. I Philipp Blum, Verein Philosophie.ch, für den Verein BWMF

 
Warum Nietzsche?

Eine statutarische Aufgabe des Vereins BWMF besteht darin, die Werke des Philosophen Friedrich Nietzsche einer breiten Öffentlichkeit näher zu bringen. Dies ist ein "work in progress". Aufgrund der Corona-Pandemie kann sie einstweilen nur über die Website ausgeführt werden. Es ist geplant, öffentliche Veranstaltungen durchzuführen, sobald es die Situation erlaubt.

 

Reiche Ideenwelt ohne System, niedergeschrieben in Aphorismen:

Die Ideenwelt von Nietzsche ist reich und hat kein System. Seine besondere Art, Erkenntnisse in Aphorismen niederzuschreiben, also in einem oder wenigen isolierten Sätzen, macht die Philosophie von Nietzsche anfällig für Missbrauch und Manipulation, weil ihr die Einfassung in einen sichernden Kontext fehlt.

Sowohl die politische Rechte im ersten Weltkrieg wie auch die Schergen des Dritten Reiches usurpierten die Philosophie Nietzsches als Fundament ihres grauenhaften Gesellschaftsmodells. Dies obwohl Nietzsche Militarismus, Nationalismus und Antisemitismus verachtete.

"Beim Nationalismus handelt es sich um die schlechte Ausdünstung von Leuten, die
nichts anderes als ihre Herden-Eigenschaften haben, um darauf stolz zu sein."

(Friedrich Nietzsche)

***

 

Inhaltsverzeichnis:

1. Kurzbiografie

2. Die Ideenwelt von Friedrich Nietzsche

3. Belletristik & Lyrik

4. Warum wir den Ukrainern helfen sollen - aus Sicht von Nietzsche

***

 

Kurzbiografie

 

Nietzsche wurde 1844 im Kleindorf Röcken in der Nähe von Leipzig geboren. Sein Vater war evangelisch-lutherischer Pfarrer in der Dorfkirche, gleich neben dem Pfarrhaus, wo die Familie wohnte. Zwei Jahre später kam seine Schwester Elisabeth zur Welt, die in seinem Leben noch eine schlimme Rolle spielte. 1849 starb der Vater nach einem Sturz von der Treppe. Die Mutter zog mit den Kindern 25 Kilometer südwestlich nach Naumburg an der Saale.

Nietzsche hatte bereits als Gymnasiast eine besondere musische und sprachliche Begabung. Mit 14 Jahren erhielt er einen Freiplatz in einer der besten Schulen des Staates, der Schulpforta in Naumburg.  1864 begann er das Studium der klassischen Philologie und Theologie an der Universität Bonn. Von der Theologie wandte er sich nach einem Semester und gegen den Willen seiner frömmlerischen Mutter ab, weil er den Glauben an die christliche Religion verloren hatte. Schon damals litt er unter starker Kurzsichtigkeit.

1865 wechselte er an die Universität Leipzig, wo er – unterbrochen von einem Kriegseinsatz, der mit einem schweren Reitunfall und der Verabreichung von Morphium endete – 1869 das Studium abschloss. Aufgrund einer brillanten Publikation wurde ihm der Doktortitel ohne Doktorarbeit erteilt. Dank seinem besonderen Talent wurde Nietzsche sogar ohne Habilitation als Professor für klassische Philologie an die Universität Basel berufen. Ein Jahr später folgte ihm seine Schwester nach Basel, um den Haushalt zu führen. Nietzsche nannte sie das "Lama", weil sie ihm die Lasten des täglichen Lebens abnahm, dabei aber gelegentlich (sinnbildlich) "spuckte". Das Lama durfte dank Nietzsche in der guten Basler Gesellschaft verkehren, was für ihr Gemüt Balsam war, für Nietzsche hingegen ein Graus.

Obwohl sich Nietzsche 1870 von der preussischen Staatsbürgerschaft befreien liess und danach für immer staatenlos blieb, verpflichtete er sich im deutsch-französischen Krieg (1870/1871) auf deutscher Seite als Sanitäter. Dort holte er sich eine üble Dysenterie- und Diphterie-Infektion. Die Dysenterie oder Ruhr war eine häufige bakterielle Kriegserkrankung mit schweren Durchfällen und Langzeitfolgen (Augen-, Harnwegs- und Gelenkleiden). Nicht minder gefährlich waren die Langzeitfolgen der Diphterie (Herzschäden, Nierenschäden etc.). Obwohl medizinischer Laie, konnte sich Nietzsche mit seinem Doktortitel Medikamente verschreiben lassen und er tat dies ausgiebig: Er nahm Morphium, Chloralhydrat und Strychnin ein.

In den Jahren nach seiner Rückkehr an die Universität Basel verschlechterte sich seine bereits angeschlagene Gesundheit. Zu schaffen machten ihm insbesondere eine wiederkehrende Migräne und ein Augenleiden. Nietzsche konnte nicht mehr selbst schreiben und war auf die Hilfe anderer angewiesen (Vorlesen und Schreiben nach Diktat).

1875 musste sich Nietzsche  wegen schlechter gesundheitlicher Verfassung von der Universität Basel beurlauben lassen. 1879 bat er um seine Entlassung. Immerhin sprach man ihm eine jährliche Pension in Höhe von 3'000 Franken zu, was in Kaufkraft ausgedrückt rund 30'000 heutigen Franken entsprach. Das Lama half ihm noch, die Wohnung in Basel aufzulösen, dann kehrte sie nach Naumburg zurück.

Fortan war Nietzsche, getrieben von seinen Leiden und wohl den Spätfolgen einer Syphilis-Infektion als Nomade, in der Schweiz und Italien unterwegs; ständig auf der Suche nach einem Klima, das seine Schmerzen möglichst lindern möge. In der Schweiz logierte er meist in Sils-Maria im Oberengadin. Mehrmals weilte er auch im Gasthaus Froburg in Trimbach / SO. Soweit es ihm die Gesundheit erlaubte, betätigte er sich als freischaffender Philosoph. Seine Bücher fanden zunächst allerdings nicht den erhofften Erfolg.

Zu Beginn des Jahres 1889 hielt sich Nietzsche auf einem öffentlichen Platz in Turin auf. Als ein Kutscher sein Pferd misshandelte, eilte Nietzsche dem Tier zu Hilfe, umarmte es und klammerte sich fest. Darauf erlitt er einen geistigen Zusammenbruch, der bis zu seinem Tod andauerte. Ein Freund holte ihn sofort von Turin nach Basel, wo er in einer Klinik behandelt würde  (Diagnose: progressive Paralyse, mit anderen Worten: das  Endstadium einer Syphilis-Infektion, verbunden mit Grössenwahn und geistigem Zerfall). Nietzsches Mutter reiste an und liess ihn gegen alle Widerstände in eine Klinik in Jena überführen. 1890 nahm ihn die Mutter nach Hause nach Naumburg, wo sie ihn bis zu ihrem Tode 1897 aufopfernd pflegte.

Bereits war 1893 Elisabeth, seine Schwester, aus Paraguay nach Naumburg zurückgekehrt. Sie hatte dort ab 1886 versucht, mit ihrem Ehegatten Bernhard Förster, einem fanatischen Antisemiten, die Siedlungskolonie "Nueva Germania" aufzubauen. Das Projekt scheiterte kläglich und ihr Ehegatte beging 1889 Selbstmord. Elisabeth hatte in ihrer Zeit mit dem Antisemiten nicht nur dessen Einstellung, sondern auch beträchtliche Organisationskenntnisse erworben. Beides setzte sie bei der Bewirtschaftung des geistigen Nachlasses ihres Bruders geschickt, aber skrupellos ein: 1897 zog sie mit Nietzsche und der Hausgehilfin Alwine in eine repräsentative Villa in Weimar. Im Parterre liess sie ein Nietzsche-Archiv einrichten, über das sie regierte wie eine Königin. Im Obergeschoss dämmerte Nietzsche im weissen Gewand auf der Krankenstatt dahin. Erlesene Besucher führte sie nach oben, damit sie ihn besichtigen konnten. Dazu wurde er zurecht gemacht und sein Walross-Schnurrbart gesalbt. Nietzsche war zu dieser Zeit zwar geistig umnachtet und nahm kaum etwas wahr. Die Würde wurde ihm trotzdem geraubt.

Die schlimmste Phase leitete Elisabeth erst nach dem Tod ihres Bruders (25. August 1900) ein. Zwar gab sie sich als Gralshüterin des Nachlasses von Nietzsche. In Verkehrung seiner Geisteshaltung manipulierte sie aber seine Gedanken und Schriften, um daraus Profit zu schlagen. So ist etwa das von ihr herausgegebene Werk "Der Wille zur Macht" in wichtigen Teilen eine Fälschung. Mit ihrer willfährigen Hilfe konnten im ersten Weltkrieg die politische Rechte und wenige Jahre darauf die Schergen des Dritten Reichs Nietzsche für ihre Sache dienstbar machen. Hitler persönlich besuchte Elisabeth über ein Dutzend Male. Elisabeth verstarb 1935, vier Jahre vor dem zweiten Weltkrieg.

Anzumerken ist allerdings, dass ihre manipulative Tätigkeit durch zahllose Philosophen, Philologen, Künstler, Staatsmänner und Industrielle finanziell und ideell unterstützt wurde. Ohne diese vom Zeitgeist geölte Unterstützungsmaschinerie wären das Archiv und die Werke von Nietzsche vielleicht für immer bedeutungslos geblieben.

Heute gehören die Werke von Nietzsche aus dem alten Archiv in Weimar der Klassik Stiftung Weimar, welche sie nach der Wende von der DDR-Institution "Nationale Forschungs- und Gedenkstätte der klassischen deutschen Literatur in Weimar (NFG)" übernahm. Dank diplomatischem Geschick wurden die bereits in Kisten verpackten Werke nach dem Zweiten Weltkrieg nicht von den Russen verschleppt.

 

Quellen:

- https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche

- https://www.youtube.com/watch?v=zjblnNJyxio

- https://www.aerzteblatt.de/archiv/21950/Nietzsches-Krankheit-Genie-und-Wahnsinn

- https://de.wikipedia.org/wiki/Elisabeth_F%C3%B6rster-Nietzsche

- https://gutezitate.com/zitat/274484

- https://de.wikipedia.org/wiki/Nietzsche-Archiv#Das_Basler_Gegenarchiv_

https://saez.ch/journalfile/view/article/ezm_saez/de/saez.2000.07005/311bdc60a861759d4ac96cc4da082f5cc67ab203/saez_2000_07005.pdf/rsrc/jf

- https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/niederamt/friedrich-nietzsche-auf-der-froburg-der-ort-zwischen-ende-und-anfang-ld.1398552

 

 

Die Ideenwelt von Friedrich Nietzsche

Vorbemerkung

Das Gesamtwerk von Nietzsche findet Platz in 40 Buchbänden mit je rund 400 Seiten. Nicht alles darin hält einer kritischen Überprüfung stand, vor allem nicht im Licht der heutigen Zeit.

Nietzsche war sehr sprachgewandt. Seine Sätze gleichen Riesenwellen in einem Surfparadies. Leider sind die Formulierungen oft schwer verständlich. Der Verein BWMF hat sich zum Ziel gesetzt, aus dem Werk von Nietzsche nach und nach Themen herauszugreifen und sie in verständlicher Form für interessierte Menschen aufzubereiten.

 

Nietzsche - ein Philosoph der Zukunft

Nietzsche ist in vielerlei Hinsicht ein beachtlicher und bemerkenswerter Philosoph, immer

noch und vielleicht gerade besonders in Zeiten, in denen viel von Gesundheit, einem seiner

Lieblingsthemen, die Rede ist.

Denken ohne Kompromisse:

Er ist zunächst einmal als Denkerfigur eindrücklich. Als einer, der in schon fast absoluter Einsamkeit keine, aber auch gar keine sozialen, denkerischen oder ideologischen Kompromisse einzugehen bereit ist; ein skeptischer Aussenseiter, der diese Rolle nicht nur bewusst wählt, sondern als die einzig richtige, die einzig lebenswürdige verteidigt. Vielleicht ist es tatsächlich, wie er behauptet, dieser Preis, der ihm die schonungslose Kritik und die haarscharfe Diagnose ermöglicht von all dem, was nur halb ehrlich, nur halb durchgedacht und durchgehalten ist, von allem Althergebrachten, allen Kompromissen, allen Abschwächungen, allen Nuancierungen und Relativierungen - ein Kompromiss ist für Nietzsche schon nur darum faul, weil er ein Kompromiss ist, weil er kompromittiert, die Redlichkeit verletzt, mit der wir zur Position gekommen sind, von der wir mit dem Kompromiss abweichen.

Einzigartige Form des Denkens:

Bemerkenswert ist aber dann natürlich in erster Linie seine Philosophie, die absolut einzigartige Form und der damit aufs engste verbundene Gehalt seines Denkens, immer skeptisch, immer kritisch, nicht nur nicht zuletzt, sondern zuerst auch sich selbst gegenüber. Drei wichtige Aspekte sollen hier kurz berührt werden: seine erbarmungslose Kritik an der herkömmlichen Moral, sein erstaunlich positives Menschenbild und seine Ausrichtung auf die Zukunft.

Bedeutung des Nietzsche-Zitats "Gott ist tot":

"Gott ist tot" ist das wohl berühmteste Zitat Nietzsches. Das Zitat ist ein Kernpunkt seiner erbarmungslosen Moralkritik. Was bedeutet es aber? Es ist weder eine Zeitdiagnose, noch ein Bekenntnis zum Atheismus, noch - Gott behüte! - das Eingeständnis eines Mordes; es ist eine an die Philosophen seiner und unserer Zeit und an uns alle gerichtete Erinnerung daran, dass wir nicht ohne weiteres annehmen können, dass die sogenannt christlichen Werte und Tugenden - Nächstenliebe, Barmherzigkeit, aber auch Keuschheit und Demut – auch ausserhalb ihres ursprünglichen religiösen Kontexts ihre Gültigkeit bewahren. Das Zitat ist damit Ausdruck eines Skeptizismus. In einer modernen, diversen, widersprüchlichen und pluralistischen Gesellschaft können wir solche Werte nicht unbefragt voraussetzen, nicht einfach davon ausgehen, dass die anderen sie teilen oder gar respektieren werden. Der Gott, dessen Nennung die Beendung, nicht der Anfang eines Arguments ist, dieser Gott ist tot und nichts wird ihn wieder zum Leben erwecken. Nur wenn wir unsere Werte ohne Rücksicht auf Verluste ständig hinterfragen, wenn wir keine Kosten der Kritik scheuen, auch wenn sie unserem Leben die Behaglichkeit nimmt, nur wenn wir immer auch berücksichtigen, woher eine vertretene Meinung - historisch, biologisch, ideologisch - herkommt, nur dann können wir Anspruch darauf erheben, richtig zu denken und richtig zu leben.

Bedeutung des Nietzsche Konzepts "Wille zur Macht":

Der Mensch, den Kopernikus aus der Mitte des Universums verbannte, den Darwin seiner Höherstellung beraubte und der nach Freud nicht mal im eigenen Haus noch Herr oder Herrin sein soll, wird von Nietzsche durch und durch biologisch verstanden. Dass wir aber nichts anderes als Tiere sind, sieht er - anders als damals und heute immer noch fast alle anderen - nicht als Beschränkung der Freiheit oder Beraubung eines vermeintlichen Privilegs. Im Gegenteil: Gerade weil wir ganz und gar biologische Wesen sind, haben wir die Chance uns zu entwickeln. Und weil wir uns entwickeln können, können wir mit- und gegeneinander, zusammen, als Kollektiv - nach Höherem streben. Dieser "Wille zur Macht", das Streben nach Höherem, nach unseren eigenen Werten und Tugenden, ist wohl der zweitbekannteste Slogan seiner Philosophie: Es ist der Wille, sich seiner selbst zu bemächtigen, in seinen Werten und Tugenden selbständig und souverän zu sein, sich von Verkrustung, Gewohnheit, Konformismus und Zwang zu befreien. Eine solche Befreiung unserer Selbst, ein Werden zu dem, was wir ja eigentlich (in unserem Wollen) schon sind, ist immer ein Projekt, nie erreicht, erledigt, oder hinter uns gebracht.

Nietzsche – Philosoph der Zukunft:

In diesem Sinn ist Nietzsche ein Philosoph der Zukunft: Nicht nur einer, dessen kritisches Hinterfragen wir auch in Zukunft nicht hinter uns bringen können, sondern ebenfalls in seiner eigenen Philosophie selbst. Der Mensch und seine Werte sind für Nietzsche dynamisch - sie erschöpfen sich nicht darin, wie sie jetzt gerade sind, noch sind sie davon festgelegt, wie sie sind und waren, sondern sie sind wesentlich davon bestimmt, wie und was sie sein werden. In diesem Zusammenhang ist die "ewige Wiederkehr des Gleichen" zu verstehen, ein drittes geflügeltes Nietzsche-Wort. Dass alles ewig wiederkehrt, wiedergekehrt ist und wiederkehren wird, bedeutet, dass die Gegenwart und die Vergangenheit die Realität nicht ausmachen, dass die Zukunft genauso wie die Vergangenheit und in derselben Weise zur Welt und zu uns gehört. Wir sind genauso das, was wir sein werden, wie wir das sind, was wir waren - ein Gedanke, der für jemanden, der sich als biologisches, strebendes, wollendes Wesen begreift, ein hoffnungsvoller ist. Ein Philosoph der Zukunft ist Nietzsche schliesslich auch in einem dritten Sinn, als Denkerfigur: Es sind die Philosophen der Zukunft, die er verstehen und hinterfragen will, nicht die Philosophen der Vergangenheit. Es sind, aus seiner Sicht, wir. Und für uns gilt das gleiche: Es ist nicht die Philosophie der Vergangenheit, die geschriebene, analysierte, studierte Philosophie, die uns laut Nietzsche zu beschäftigen hat, sondern die Philosophie der Zukunft. Wenn uns seine leidenschaftliche, wortgewaltige, unerschrockene Stimme, die wir aus unserer Vergangenheit hören, dabei helfen kann, dann umso besser.

 

Belletristik & Lyrik

 
Die Sonne sinkt

Nietzsche hat auch einige wundervolle Gedichte verfasst. Eines der berühmtesten ist das Gedicht "Die Sonne sinkt", das er im Jahre 1872 im Rahmen seines Schaffens zur Griechischen Tragödie erschuf. Diese Tragödien wurden im alten Athen zu Ehren des Gottes Dionysos (Gott des Weins, der Fruchtbarkeit und der Ekstase) aufgeführt.

Die Sonne sinkt

Nicht lange durstest du noch,

               verbranntes Herz!

Verheissung ist in der Luft,

aus unbekannten Mündern bläst mich’s an

            — die grosse Kühle kommt ...

 

Meine Sonne stand heiss über mir im Mittage:

seid mir gegrüsst, dass ihr kommt

              ihr plötzlichen Winde

ihr kühlen Geister des Nachmittags!

Die Luft geht fremd und rein.

Schielt nicht mit schiefem

              Verführerblick

die Nacht mich an? ...

Bleib stark, mein tapfres Herz!

Frag nicht: warum? —

 

Tag meines Lebens!

die Sonne sinkt.

Schon steht die glatte

               Fluth vergüldet.

Warm athmet der Fels:

schlief wohl zu Mittag

das Glück auf ihm seinen Mittagsschlaf?

              In grünen Lichtern

spielt Glück noch der braune Abgrund herauf.

Tag meines Lebens!

gen Abend gehts!

Schon glüht dein Auge

              halbgebrochen,

schon quillt deines Thaus

              Thränengeträufel,

schon läuft still über weisse Meere

deiner Liebe Purpur,

deine letzte zögernde Seligkeit ...

 

Heiterkeit, güldene, komm!

              du des Todes

heimlichster süssester Vorgenuss!

— Lief ich zu rasch meines Wegs?

Jetzt erst, wo der Fuss müde ward,

              holt dein Blick mich noch ein,

              holt dein Glück mich noch ein.

Rings nur Welle und Spiel.

               Was je schwer war,

sank in blaue Vergessenheit,

müssig steht nun mein Kahn.

Sturm und Fahrt — wie verlernt er das!

              Wunsch und Hoffen ertrank,

              glatt liegt Seele und Meer.

Siebente Einsamkeit!

              Nie empfand ich

näher mir süsse Sicherheit,

wärmer der Sonne Blick.

— Glüht nicht das Eis meiner Gipfel noch?

              Silbern, leicht, ein Fisch

               schwimmt nun mein Nachen hinaus ...

 

 

Friedrich Nietzsche zur Frage, ob wir den Ukrainern helfen sollen

 

Traditionellerweise befasst sich die philosophische Ethik mit dem, was ge- oder verboten ist, mit moralischen Pflichten und moralischen Verboten. Gerade in der neusten Zeit ist vielen philosophischen Ethikern aufgefallen, dass dieses Korsett etwas eng ist. Wenn ich einem bedürftigen Bettler etwas gebe, ist meine Handlung zwar nicht geboten (und schon gar nicht verboten), aber sie ist moralisch gut und verdient Lob deswegen. Eine solche Handlung, die zwar moralisch gut, aber nicht moralisch obligatorisch oder geboten ist, wird heutzutage oft “supererogatorisch” genannt. Das Supererogatorische, seine Definition und seine Bedeutung, werden mittlerweile in fast allen Gebieten der Ethik diskutiert, oft so, als handle es sich um eine neuste Entdeckung.

Aber nicht nur in der Bibel kommt die Idee bereits vor, sondern vielleicht auch bei Nietzsche. Ohne eine umfassende oder gar abschliessende Charakterisierung des problematischen, aber auch sehr interessanten Begriffs “Übermensch” liefern zu können: ein Übermensch ist jemand, der sich von den “Fesseln” der Ge- und Verbote befreit und seine eigene Art des Guten gefunden hat. Die erste Rede des Zarathustra beginnt so:

Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.

Das Kameel will das Schwere, die Pflicht, das Müssen; es nimmt all dies auf sich und trägt es geduldig. Aber es ist nicht frei, es wählt nicht, sein Leben ist ein “Du sollst”. So verwandelt es sich zum Löwen, der “Nein” sagt und sich seine Freiheit nimmt. Das Credo des Löwen ist “Ich will”, seine Geste ist die Abwehr, das Zurückweisen der Pflicht. Aber das ist erst die zweite Verwandlung. Erst mit der dritten Verwandlung, wenn der Löwe zum Kind wird, entdeckt das Tier seinen eigenen kritischen Verstand, seinen Willen und sein Recht aus Selbstbestimmung und wird so zum Menschen.

Es ist diese dritte Verwandlung, die Nietzsche für das Thema der Ukrainerhilfe interessant macht. Der Schritt vom Löwen zum Kind ist der Schritt von “Ich will” zum “Ich darf”. Vom Kind sagt Nietzsche (den ich zumindest mir nicht als Vater vorstellen kann):

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. 

Der Löwe verwandelt sich, weil seine Freiheit nur negativ ist. Er kann sich wehren, aber er weiss nicht, wofür. Sein Handeln ist frei – er macht, was er will, aber wie frei ist sein Wille? Kann er wählen, was er will, oder hat er bloss die Diktatur der Norm eingetauscht für die Knechtschaft des Willens, der von was auch immer abhängen mag. Der Schritt zum Kind, zum Übermenschen, ist die Entdeckung, dass es zum Handeln keine zwingenden Gründe braucht: wir können auch einfach so das Richtige, das Gute tun – weil wir es dürfen.

Warum wir den Ukrainern helfen sollen? Nicht, weil wir es müssen (auch wenn wir es müssten); nicht, weil wir es wollen (auch wenn wir es wollten); ganz einfach deshalb, weil wir es dürfen.

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